
Tamar wird zum Brandstapel geführt – Jacopo da Ponte, 1566/67
Jehuda spielt eine Hauptrolle in beiden Erzählungen, in deren Verlauf er sich von einem herzlosen und skrupellosen Zyniker zu einem würdigen Mann wandelt, der qualifiziert ist, nach Ja’akows Tod das Zepter der Herrschaft zu übernehmen.
Als die Brüder das Mordkomplott gegen Jossef schmieden, schlägt Jehuda eine bessere und lukrativere Lösung vor: Welcher Gewinn ist es, dass wir erschlagen unseren Bruder … Kommt, lasst uns ihn verkaufen den Jischmaelitern (Berejschit 37:26-27). Dann ist sein Leben miserabel, brutal und kurz. In 37:32 zwingt Jehuda seinen Vater Ja´akow, den blutgetränkten Rock Jossefs zu identifizieren: “Haker-na – erkenne, ob es der Rock deines Sohnes ist?” Dieser gewissenlose, unbarmherzige Jehuda hat kein Gespür für moralische Verantwortung, was es heißt, ein Bruder oder Sohn zu sein.
Eine wagemutige Frau wird Jehudas Strafe und Wandlung herbeiführen: Tamar. Nach dem frühen und unheimlichen Tod ihrer Ehemänner Ejr und Onan wird ihr von Jehuda, der ängstlich auf halbem Wege stehengeblieben ist, die Schwagerehe mit Schela vorenthalten. Nach langer Wartezeit hält sich Tamar an den Vater und bindet ihn mit den Pfändern an sich. Als Tamar von Jehuda zum Tod verurteilt wird, schickt sie ihm die Pfänder zurück, die er ihr als Kaution für die Bezahlung ihrer Dienste als vermeintliche Prostituierte überließ: Haker-na – Erkenne doch, wem gehöret dieser Siegelring und Ehrenschnur und Stab (38:25). Und Jehuda muss, zu seiner Schmach und Schande, diese Gegenstände als die seinen erkennen.
Midrasch Rabba §84:19 bezieht sich auf diese auffällige sprachliche Parallele von Haker-na: Der Ewige sprach zu Jehuda: du sagtest zu deinem Vater Haker-na. Und in deinem eigenem Leben sollst du von Tamar hören: Haker-na.
In dieser Schlüsselszene versteht Jehuda zum ersten Mal, dass es notwendig ist, moralische Verantwortung zu übernehmen. Er hört den Widerhall seiner eigenen Worte, als er Ja’akow den blutgetränkten Rock zeigte: Haker-na? Nun ist Jehuda imstande, seine Schuld zu bekennen: Zadka mimeni – sie ist gerechter als ich. Jehuda erfährt eine Charakterwandlung und macht den ersten Schritt auf seiner Reise zur persönlichen Verantwortung.
Das ist der Jehuda, der nach Mizrajim reist, um Nahrung zu kaufen, und dort mit einem Mann konfrontiert wird, der seinen Bruder Binjamin ins Gefängnis werfen will. Das ist der Jehuda, der in 43:9 zu Ja’akow sagt: Ich will für ihn bürgen, aus meiner Hand sollst du ihn fordern, wenn ich ihn nicht zu dir bringe. Was für eine Veränderung! In seiner Rede in Paraschat Wajigasch spricht Jehuda die Vergangenheit an und übernimmt die volle Verantworung für das Schicksal des Bruders. Er steigt zur Führung auf und verdient es, dass Ja´akow ihm die Herrschaft übergibt: Jehuda, dich preisen deine Brüder … es beugen sich dir die Söhne deines Vaters (49:8). Nicht weichen wird das Zepter von Jehuda, noch der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der von Schilo kommt, und ihm wird der Gehorsam der Stämme (49:10).
Als Jossef nach Mizrajim gebracht wurde, sagen unsere Weisen, begann das Exil, und am Ende der Jehuda- und Tamar-Erzählung hören wir von der Geburt des Perez, des Stammvaters Davids. Infolge der Wandlung Jehudas ist es den Juden bestimmt, am Ende der Tage erlöst zu werden. Dann wird der Geist der Veränderung die Welt durchdringen, angeführt von einem Nachkommen Jehudas.
Zu derselben Zeit, als Kummer und Trauer im Hause Ja’akows herrschten, als Josef in Mizrajim leiden musste und Jehuda auf Abwege geriet, war der Ewige damit beschäftigt, das Licht des Königs Maschiach zu schaffen (Midrasch Rabba zu Wajeschew).