Die Vorbestimmung, frei entscheiden zu können – Gastbeitrag

Rabbiner Samson Raphael Hirsch

Rabbiner Samson Raphael Hirsch

Austrian-German_Swiss_flags-tinyVon Rabbiner Schlomo Hofmeister

Gleich zu Beginn unseres Wochenabschnitts werden Mosche und Aharon zum wiederholten Male von G”tt beauftragt, Par’o (der Pharao) aufzusuchen um ihn zu warnen, dass eine weitere Plage über das Land Mitzraijm (Ägypten) hereinbrechen werde, wenn er die Kinder Jissraëls nicht endlich ziehen lässt. Dies wissen wir jedoch nur aufgrund der uns bekannten, daraufhin folgenden Ereignisse und weil Raschi uns erklärt, dass dies der eigentliche Zweck der Aufforderung: „Komm’ zu Par’o“ ist. Wenn wir die einleitenden Sätze unserer Parascha jedoch wörtlich nehmen würden, fänden wir augenscheinlich eine ganz andere, aus mehreren Gründen eigenartig anmutende, und konzeptuell schwer verständliche Begründung: „Komm’ zu Par’o, denn Ich habe sein Herz und (das Herz) seiner Diener verhärtet, um diese meine Zeichen in seiner Mitte aufzustellen, damit du deinem Sohn und deinem Enkel ins Ohr erzählst, durch welche Ereignisse ich mich in Mitzraijm gezeigt und welche Zeichen ich an ihnen setzte, damit ihr erkennt, dass ich G”tt bin!

Noch einmal der Reihe nach:

Mosche soll zu Paro gehen, weil G”tt sein Herz verhärtet hat?

G”tt hat das Herz Par’ohs verhärtet, weil er einen Anlass möchte, weitere Plagen über Ägypten kommen zu lassen?

Wie kann es sein, dass der liebe G”tt das Herz Par’os verhärtet, oder wie Rabbiner S. R. Hirsch (1808-1888) treffender übersetzt „unbeweglich“ gemacht hat – will Er denn gar nicht, dass Paro die Kinder Jissraëls aus der Sklaverei entlässt und ziehen lässt? Wenn G”tt die freie Willensentscheidung Par’os beeinflusst, wie kann Er, der Gerechte, ihn dann überhaupt dafür zur Verantwortung ziehen und das ganze ägyptische Volk noch durch weitere Plagen leiden lassen? Wenn G”tt Par’os Entscheidung sowieso bereits manipuliert hat, um eine Begründung für weitere Plagen zu haben, ist es dann nicht eine Farce und eine dem Allmächtigen unwürdige Absurdität, Par’o dennoch warnen zu lassen, als könne er das bereits beschlossene Vorgehen gegen Ägypten noch verhindern? Und mehr noch, all das, nur damit wir unseren Kindern und Enkelkindern von den 10 Plagen erzählen können, um daran die Allmacht G”ttes zu erkennen?

Wie so oft, müssen wir uns auch bei dieser Passage der Tora davor hüten, die uns nur scheinbar verständliche, wörtliche Bedeutung zu übernehmen und dadurch, ohne Berücksichtigung der durch unsere talmudischen Weisen überlieferten Tradition, zu falschen, oft gegenteiligen, Schlussfolgerungen zu gelangen – wie das, von der Antike bis in die Neuzeit, von anderen Völkern und Kulturen, die versucht haben unsere Tora (oder gar nur eine Übersetzung derselben), aus dem Kontext der jüdischen Tradition herausgelöst, zu verstehen, mit oft fatalen Folgen, immer wieder getan wurde.

Wie die meisten unserer klassischen Kommentatoren in ihren logischen und philosophischen Analysen verdeutlichen, wurde Paro seine Fähigkeit zur freien Willensentscheidung eben nicht genommen (u. a. Sforno 4:21). Und selbst diejenigen, die das „Verhärten“ seines Herzens als eine gewisse Lähmung seiner freien Willensfähigkeit verstehen, stimmen dennoch zu, dass er für seine Entscheidung, die Kinder Jissraëls nicht ziehen zu lassen, dennoch selbst verantwortlich bleibt, da diese „Unbeweglichkeit“ seines Herzens, in der sich Par’o nun gefangen sieht, eine natürliche Konsequenz, um nicht zu sagen „Strafe“, gemäß dem Prinzip „Midda keneged Midda“ (Maß für Maß), seiner bereits sechsfachen, diesbezüglichen Weigerung ist, eine Art Teufelskreis der Sturheit, den nur Paro selbst sprengen kann, indem er sich durchringt, über seinen eigenen Schatten zu springen und das Richtige zu tun (u. a. Midrasch Rabba Schemos 13:3 und Ramban Schemos 7:3).

Zwar wusste G”tt, der sich über dem uns Menschen beschränkenden Rahmen von Raum und Zeit befindet, wie sich Par’o tatsächlich entscheiden würde, und dass daher auf die bisherigen sechs Plagen noch vier weitere folgen würden, die Verantwortung dafür trägt jedoch Paro selbst, der sich aller Warnungen zum Trotz, ungeachtet der ersten sechs Warnungen und darauf gefolgten Plagen, freien Willens fest entschlossen hatte, der Forderung die Kinder Jissraëls ziehen zu lassen, nicht zu entsprechen.

Komm’ zu Par’o, denn Ich habe sein Herz verhärtet“ bedeutet also, dass Mosche und Aharon geschickt wurden, um Par’o vor weiteren Plagen zu warnen, was angesichts des bisher Geschehenen nur deswegen überhaupt noch Sinn machte, weil G”tt das Herz von Par’o verhärtet hatte. Die Verhärtung seines Herzens, wie Rabbiner Owadja Sforno (1475-1550) darlegt, ermöglichte es Par’o nämlich erst frei von Angst und Emotionen eine tatsächlich freie, rationale Gewissensentscheidung bezüglich der Freilassung der Kinder Jissraëls zu treffen, also dem Willen G”ttes entsprechend zu handeln oder auch nicht. Dies ist prinzipiell ein wichtiges Konzept unserer jüdischen Weltanschauung, welches sich auch im Schema Jissraël findet, das wir zweimal täglich rezitieren, wo wir aufgefordert werden: „Lasst euch nicht von eurem Herzen führen“ (Dewarim 11:16). Genauso wenig wie hier, ist auch bei Paro, mit „Herz“, nicht die im deutschen Sprachgebrauch ausschließlich damit assoziierte, positive Kapazität menschlicher Güte und Barmherzigkeit gemeint, sondern vielmehr der Ausgangspunkt jedweder, unserer Ratio zuwiderlaufenden, und daher unseren freien Willen einschränkenden Emotionen; wenn wir lesen, dass Paros Herz „verhärtet“ (vom hebr. „Kawad“) wurde, ist dies also zunächst eine wertneutrale Aussage und bedeutet lediglich, dass Par’o einen objektiven Standpunkt bekommt.

Übrigens, wenn die Torah uns auffordert, dass wir (wie im deutschen Sprachgebrauch) unseren Mitmenschen gegenüber unser „Herz nicht verhärten“ (Dewarim 15:7) sollen, verwendet sie das Wort „Amatz“.

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