Sind die Gesetze der Tieropfer in der Tora nur arkane und in der heutigen Zeit nicht relevanten Regel und intellektuelen Merkwürdigkeiten? Oder können wir vielleicht sogar moralische Lehren für den Alltag aus den Einzelheiten dieser Gesetze ziehen?
Das große Thema des dieswöchigen (und letztwöchigen) Tora-Abschnitts “Zaw” sind die unterschiedlichen Korbanot (Opfer), die im Tempel geopfert wurden, und deren Gesetze. Die Tieropfer durften nur von bestimmten Tierarten kommen, durften nur im Tempel geschächtet und dort von den Kohanim (Priestern) nach festen Vorschriften teils geopfert und teils gegessen werden. Deren Verzehr folgte auch bestimmten Regeln. Wer durfte davon essen? Je nachdem nur die Kohanim oder alle Jüdinnen und Juden. Wo durfte man davon essen? Je nachdem nur im Tempelhof oder in der ganzen Stadt Jeruschalajim. Wie viel Zeit durfte man sich nehmen, um das Opferfleisch zu essen? Das variierte von einer Nacht bis zu zwei Tagen. Alle, die mit den Opfern umgingen, mussten tahor, rituell rein sein.
Zu den Regeln des Umganges mit Opfern zählen auch Gesetze, die die Folgen bestimmen, wenn Opfer mit anderen, nicht geheiligten, bzw. sogar tamej, rituell unreinen Personen, Nahrungsmitteln oder Gegenständen in Berührung kommen.
Wenn etwas Heiliges mit etwas Unreinem in Berührung kommt, dann können wir uns leicht unterschiedliche Ergebnisse vorstellen. Es wäre durchaus vorstellbar, dass (1) das Heilige das Ungeheiligte „übernimmt“. Es wäre aber auch vorstellbar, dass (2) das Heilige dabei entweiht wird oder dass (3) die Berührung unbedenklich ist.
In Wirklichkeit trifft manchmal (1), aber hauptsächlich (2) zu. So bestimmt die Tora (Wajikra 6:20): Alles, was sein Fleisch [des Opfers] anrührt, wird heilig, und wenn etwas von seinem Blut auf ein Kleid spritzt, so sollst du das, was bespritzt worden ist, an heiliger Stätte waschen. Dies entspricht unseren beiden Regeln. Die Verkündung „Alles, was sein Fleisch [des Opfers] anrührt, wird heilig“ erläutert Raschi: Es wird heilig, um gleich wie das Opferfleisch zu werden. Wenn das Opferfleisch heilig ist, dann soll das nun von ihm Geheiligte unter Einhaltung der gleichen Regeln gegessen werden; wurde das Opferfleisch aber durch diesen oder vor diesem Kontakt entweiht, dann wird das von diesem Opferfleisch „Geheiligte“ wie entweihtes Opferfleisch verbannt und entsorgt.
Bisher erscheinen uns diese Regeln als arkane und in der Gegenwart leider nicht relevante Regeln bzw. intellektuelle Merkwürdigkeiten.
Aber der Prophet Chaggai, der das geistige Oberhaupt der Juden beim Bau des 2. Tempels von Jerusalem war, fand in diesen Regeln eine kräftige moralische Aussage.
In seinem Buch „I am Not the Boss, I just Work Here“, erzählt Howard Jonas, der Gründer und CEO des Telekommunikationsunternehmens IDT Corp., wie er zum Judentum zurückkam. Als geübter Geschäftsmann wusste er, wie sehr Marktteilnehmer versuchen, die Spielregeln zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. Wissend, dass Bibelkritiker behaupten, dass die Tora von verschiedenen Autoren geschrieben wurde, suchte er nach Spuren einer konsequenten Voreingenommenheit zum Vorteil irgendeiner Interessengruppe. Doch stattdessen fand er, dass die Tora keine Gruppe konsequent bevorzugt. Landbesitz ist möglich, aber alle sieben Jahre muss man sein Feld offen lassen, sodass alle Armen dort die Ernte einsammeln und essen können, und alle 50 Jahre hat man alle angekauften Ländereien wieder frei zu geben. Die großen Landbesitzer werden also nicht bevorzugt. Kohanim kriegen zwar eine Menge landwirtschaftliche und andere Abgaben, aber auch die Kohanim werden nicht durchgehend bevorzugt, denn sie hatten nur sehr wenig Land. Wir werden zwar ermahnt, für die Armen zu sorgen, aber auch die werden nicht durchgehend bevorzugt, denn das Gesetz schützt den Landbesitz und die Unternehmungen. Schlussendlich kam Jonas zur Folgerung, dass es sicher stimmt, dass diese ausgewogene Tora von G“tt ist.
Dieser Gedanke, dass auch die Kohanim im Judentum nicht durchgehend bevorzugt werden und sie sich von ihrem Dienst nicht besonders finanziell bereichern konnten, thematisiert der Prophet Chaggai, um zu betonen, dass Opfer im Judentum viel eher untauglich werden, als dass sie sich auf andere Lebensmittel und Gegenstände ausdehnen. So prophezeit er (Chaggai 2:12-14):
Wenn jemand heiliges Fleisch im Zipfel seines Kleides trägt und mit seinem Zipfel Brot oder ein Gericht oder Wein oder Öl oder irgend eine Speise berührt, werden diese dadurch heilig? Die Priester antworteten und sprachen: Nein! Da sprach Chaggai: Wenn aber jemand, der sich an einer Leiche verunreinigt hat, eines von diesen Dingen anrührt, wird es dadurch unrein? Die Priester antworteten: Es wird unrein! Da antwortete Chaggai und sprach: Ebenso ist auch dieses Volk und diese Nation vor mir, spricht der Ewige…
Obwohl der Prophet den Kohanim einige halachische Fragen stellte, meinte er damit, das Volk vor dem Bau des zweiten Tempels zurechtzuweisen: Es reicht nicht, das Heilige zu berühren. Wenn jemand, der in seinen Taten unrein ist (entweder in ritueller oder in zwischenmenschlicher Hinsicht), dann wird er vom Kontakt mit dem Heiligen nicht heilig, sondern er entweiht das Heilige. Damit meinte er – so der Kommentar Malbim von Rabbi Meir Leibusch Weiser –, dass das Volk zwar versuchte, den Tempel wieder aufzubauen, es aber scheitern würde, wenn sie die Heiligkeit nur äußerlich lebten und nicht verinnerlichten. Um aus dem zweiten Tempel einen Erfolg zu machen, müssten sie die Sünden der Ära des ersten Tempels vermeiden, und weder undankbar zu G“tt noch ungerecht zu den Menschen sein.
Ja, auch diese Regel kann eine Metapher für das voll gelebte, geistige und aufrechte Leben sein.
Heiligkeit ist nur ansteckend, wenn wir uns entsprechend äußerlich und innerlich, im rituellen wie im zwischenmenschlichen Bereich heiligen.