Die trockene Gebeine, die zum Leben erwachten (Gastbeitrag zur Haftara von Schabbat Chol haMo’ed)

Detail der Knesset Menora von Benno Elkan, der die Wiederbelebung der trockenen Gebeinen abbildet

Austrian-German_Swiss_flags-tinyVon Frau Dr. Chani HinkerDie Haftara am Schabbat Chol HaMo’ed Pessach beschreibt die Vision des im babylo­nischen Exil wirkenden Propheten Jecheskel (Ezekiel), die berühmt ist für ihr Versprechen der Auferstehung der „verdorrten Gebeine“ (Jecheskel 37:1-14).

Jecheskel befindet sich in einem Tal voll ver­dorrter Gebeine. Der Prophet spricht die Gebeine im Namen des Ewigen an: „Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, dass ihr sollt lebendig werden … Ich will euch Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen und euch mit Haut überziehen … und ihr sollt erfahren, dass ich der Ewige bin“ (37:5-6). Die Knochen verbinden sich zu ganzen Skeletten, „es wuchsen Adern und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen“ (37:8). Aber das Tal liegt immer noch im Schatten des Todes. Die Körper sind zwar wieder ganz, aber ruhig und kalt. Nur der Geist scheint zu fehlen, den Jecheskel ihnen offenbar nicht geben kann. G´tt befiehlt Jecheskel, den Geist „aus den vier Winden“ herbeizurufen. Der Geist kommt über sie und sie „stellten sich auf ihre Füße, ein gar großes Heer“ (37:10). Und damit wir nicht glauben, es handle sich hier um eine belanglose Gruppe, bringt es G´tt auf den Punkt: „Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel“ (37:11). G´tt erklärt die Botschaft: die Gebeine symbolisieren den Geist des jüdischen Volkes im Exil: „Verdorrt sind unsere Gebeine, dahin ist unsere Hoffnung, es ist aus mit uns“ (37:11). G´tt verspricht: „Siehe, ich will eure Gräber auftun und will euch, mein Volk, aus denselben herausholen, und bringe euch in das Land Israel“ (37:12).

Unsere Weisen (Sanhedrin 92b) debattieren, ob zurzeit Jecheskels eine wirkliche Auferstehung der Toten (Techijat HaMejtim) stattgefunden hat oder ob die Vision eine Allegorie für die Wiedererrichtung des unterdrückten jüdischen Volkes ist, dessen (erster) Tempel gerade zerstört worden war und das „an den Flüssen von Babel saß und weinte“ (Tehillim 137:1). Die Lesung dieser Passage am Schabbat Chol HaMoed Pessach favorisiert offensichtlich eine wörtliche Interpretation. Da gemäß einer alten Tradition die Auferstehung der Toten im Monat Nissan stattfinden wird, ist dies ein Grund für die Auswahl dieses Kapitels. Die vergangene Auferstehung zurzeit Jecheskels dient dazu, Vertrauen in die zukünftige Auferstehung zu schaffen.

Die Tora lehrt uns, unsere Beziehung mit G´tt soll nicht passiv und unterwürfig sein, sondern wir sind aufgerufen mit G´tt handeln und G´tt gibt uns die Kraft, unsere Situation zu beeinflussen und zu verändern. Am Beginn der Haftara findet eine interessante Konversation zwischen G´tt und Jecheskel statt. G´tt fragt: „Werden diese Gebeine wieder zum Leben zurückkehren?“ (37:3) und Jecheskel antwortet so gut er kann: „Herr, du weißt es.“ Es ist in G´ttes Hand, ob diese Gebeine leben werden, ob das jüdische Volk leben oder sterben wird. G´tt antwortet nicht, sondern beauftragt Jecheskel zu prophezeien. Warum? Die Botschaft ist klar. Letztendlich ist zwar alles in G´ttes Hand, aber G´tt will dass der handelnde Mensch für seine eigenen Taten die Verant­wortung übernimmt.. Wenn Jecheskel die Initiative ergreift, dann werden die Gebeine wieder zum Leben zurückkehren. Alles ist in G´ttes Hand, aber es liegt an uns, den Prozess zu starten. Jeder von uns kann zur Erlösung beitragen. Kleine Verän­derun­gen zeigen eine große Wirkung im Dominoeffekt der Charakterentwicklung.

Jecheskels Vision fordert uns heraus, auf die „trockenen Gebeine“ in unserem Leben zu blicken. Was können wir wieder zum Leben zurückkehren lassen? Unsere Beziehung mit G´tt und dem Judentum reparieren? Schabbat halten, koscher essen, in die Synagoge gehen, Tora lernen, an inspirierenden Shiurim teilnehmen?

Wir lesen Jecheskels Vision nicht nur, um die Befreiung unserer Vorfahren aus der Sklaverei zu feiern. Wir feiern auch unseren Glauben an unsere eigene Erneuerung. Nach einem langen, grauen Winter gehen wir zu Pessach hinaus und sehen das Grün der neuen Blätter, die blühenden Bäume und Blumen. Wir erkennen, dass die Welt nicht tot war, sondern nur schlief, und darauf wartete, sich zu erneuern. So wie unsere Vorfahren eine dunkle Welt der Unterdrückung verließen, verstehen auch wir, dass wir die „trockenen Gebeine“ unseres Lebens hinter uns lassen können. Zu Pessach gewinnen wir Hoffnung, den Mut aufzustehen und aufzuwachen und alles, einschließlich uns selbst, neu zu sehen.

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