
Anfang des Buchs Wajikra im Codex Aleppo
Können wir nun Speck essen? – fragte zuletzt ein Artikel in der israelischen Zeitung Haaretz, der behauptete, dass die Gesetze des Buches Wajikra vielleicht nur für die Kohanim (Priester) gemeint waren.1
Dass die Haaretz sich irrt, ist leicht zu beweisen. Viele Ge- und Verbote werden ausdrücklich an das gesamte Volk gerichtet („Spreche zu den Kindern Israels“), und ausgerechnet in diesem Buch begegnen wir vielen Ge- und Verboten zur Ehrlichkeit (Wajikra 19:11-13: „Ihr sollt einander nicht bestehlen, nicht belügen noch betrügen … nicht falsch schwören … deinen Nächsten weder bedrücken noch berauben…“) und den Wohltätigkeitsgesetzen, die selbstverständlich nicht nur für die Kohanim gelten.
Dennoch beweist der Artikel, was Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik vor einigen Jahrzehnten auf Jiddisch sagte: Der Sefer Wajikro hot kein Masel nit gehat (Das Buch Wajikra hat kein Glück gehabt). Von Christen oft wegen des Tieropferdienstes missachtet, das die zwei ersten Wochenabschnitte des Buches zum Thema haben, und von Juden wegen den zahlreichen und komplexen Themen missverstanden, wird das Buch wesentlich weniger verstanden, als die anderen Bücher der Tora. Dennoch, so sagt Raw Soloveitchik, ist es in diesem Buch, dass wir einigen der wichtigsten theologischen Prinzipien der Tora begegnen. Insbesondere:
25:23: Ihr sollt das Land (Israel) nicht auf ewig verkaufen; denn das Land ist mein, und Ihr seid Fremdlinge und Ansässige bei Mir.
25:55: denn die Kinder Israel sind mir dienstbar; sie sind meine Knechte, die ich aus Ägypten geführt habe, ich, der Ewige, euer G“tt.
Das Buch Wajikra ist eigentlich ein Handbuch, wie wir heilig leben können. Daher fängt das Buch mit der besonderen Heiligkeit der innerjüdischen Priester, der Kohanim an. Sie nehmen die Opfer in Empfang und führen den Opferdienst aus (Paraschat Wajikra). Jede und jeder kann von bestimmten Opfern nach genauen Regeln essen (Paraschat Zaw) und sich so der Tempel-Aufgabe der Kohanim teilweise anschließen. Kohanim und Tempel wurden nach bestimmten Vorschriften eingeweiht (Paraschot Zaw und Schemini), und auch im Alltag hat jeder Jude durch seine (koschere) Ernährung Heiligkeit zu erzielen (Paraschat Schemini). Alle Juden haben auf die rituelle Reinheit ihres Körpers zu achten (Paraschot Tasria & Mezora, aber – siehe dafür PUNKT N°001, 15. Juli 2016 – auch Paraschat Chukat im Buch Bamidbar). Aus gegebenem Anlass (der Tod zweier Söhne Aharons, nachdem sie entgegen dem Protokoll Feuer in das Allerheiligste brachten) erläutert die Tora den besonderen Tempeldienst des Kohen Gadols (Hohepriesters) an Jom Kippur (Paraschat Achare Mot). Dann kehrt die Tora zurück zur Heiligkeit aller Juden: Sie haben sich einer sexuellen Moralität zu unterwerfen (Paraschot Achare Mot & Kedoschim) und sich nach hohen ethischen und wohltätigen zwischenmenschlichen Standards zu benehmen (Paraschat Kedoschim). Wieder wendet sich die Tora den Kohanim zu, die zusätzlich besondere Heiligkeits- und Ehe-Gesetze einzuhalten haben. Unmittelbar darauf wendet sich die Tora aber wieder an alle Juden, die mit dem Schabbat und den Feiertagen die Heiligkeit in der Zeit erleben, wie die Kohanim das räumlich im Tempel tun (Paraschat Emor). Schließlich begegnen wir unseren zwei Wochenabschnitten (Behar & Bechukotaj) mit den zwei oben erwähnten zentralen theologischen Aussagen.
Anhand der obigen Zusammenfassung lässt sich leicht sehen, wie das Buch langsam unser Verständnis der Heiligkeit erweitert und vertieft. Anfangs geht es nur um Opfer, darum, was wir G“tt „geben“. Dann entdecken wir aber, dass die Heiligkeit von unserer Ernährung, vom Zustand unseres Körpers und von unseren Erfahrungen (Kontakt mit einer Leiche z. B.) beeinträchtigt werden kann und eine rituelle Reinigung verlangt. Dann lernen wir, dass unser Benehmen, sowohl im moralischen als auch im ethischen, zwischenmenschlichen Sinn die Heiligkeit beeinträchtigt. Also unterliegen (a) unsere Gaben (was wir G“tt geben), (b) unsere Ernährung (was wir von G“tt nehmen), (c) unser Zustand (wie wir sind), (d) unsere Sexualität (wie wir uns benehmen), (e) unsere Taten (ditto) und (f) unsere Zeiten (in welcher Jahreszeit wir gerade leben) den Aspekten der Heiligkeit.
Was unterliegt der Heiligkeit nicht? Nichts!– denn auch unsere Häuser und Felder im Lande Israel haben einen besonderen Status, damit wir verstehen, dass wir auf Erden Gäste sind. Wir sind die Gäste G“ttes und haben besondere Aufgaben. Nicht einmal unsere Freiheit dürfen wir Menschen abgeben, denn wir sind und sollen freie Menschen sein, denn unsere Freiheit ist im Dienst des Ewigen.
Das sind große Gedanken. Leider nimmt sich nicht jede und jeder die Zeit, das Buch Wajikra im Detail zu lesen, und deshalb scheint ihm oder ihr das Buch undurchsichtig, und die revolutionäre Schönheit dieser zwei Prinzipien wird nicht verstanden.
Wir wissen es mittlerweile doch, machen wir uns also daran, das Buch nochmals zu lernen.
Fußnote
1Haaretz 11. Mai 2017