
‘Solomon and the Queen of Sheba’ by Giovanni Demin. (Public Domain)
Die Jüdische Allgemeine hat nun meinen Beitrag zur Debatte, ob man “Vaterjuden” in jüdischen Gemeinden aufnehmen soll, veröffentlicht. Da der Beitrag für das Format “Pro & Contra” der Jüd.Allg. leicht gekürzt werden müsste, poste ich hier die vollständige Version. –AF
Eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in jüdischen Gemeinden ist, dass die Antragsteller jüdisch sind. Nicht nur in traditionellen jüdischen Gemeinden, zu denen sowohl orthodoxe als auch Einheitsgemeinden zählen, sondern in Deutschland auch in den liberalen oder Masorti/Conservative-geprägten Gemeinden gilt als Jude, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder in einem von der Gemeinde anerkannten Übertritt zum Judentum konvertiert ist.
Will man also die Frage klären, ob Menschen mit jüdischem Vater, Menschen jüdischer Herkunft, die laut Religionsgesetz nicht als jüdisch gelten, für eine Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde in Betracht kommen, dann kann man die Frage aus zwei Blickwinkeln betrachten: Warum gilt dieser Mensch nicht als jüdisch, und wieso nimmt eine jüdische Gemeinde grundsätzlich nur Juden als Mitglieder auf?
Wer ist Jude? ─ Immer wieder liest oder hört man, dass es nicht immer so war, dass nur solche Kinder als jüdisch gelten, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden. So schrieb auch Annette M. Boeckler am 3. Mai 2013 in der Jüdischen Allgemeinen: »In der Tora – wie auch in allen anderen Teilen der Bibel sowie in den nachbiblischen Schriften bis ins 2. Jahrhundert hinein – wird die Zugehörigkeit zum Volk Israel über die väterliche Abstammungslinie definiert.«
Diese Behauptung ist meiner Ansicht nach nicht wissenschaftlich und erst recht nicht religionsgesetzlich zu belegen. Boeckler selbst dokumentiert mehrere Quellen aus der Mischna und dem Tanach, der Hebräischen Bibel, aus denen das Matrilinearitätsprinzip klar zu entnehmen ist. Die deutlichste Stellen sind Esra 9–10, wo Kinder nichtjüdischer Frauen ausdrücklich wie ihre Mütter betrachtet werden (ebd. 10:3), und Nechemia 10:31 und 13:23–31, wo besonders betont wird, dass die Kinder solcher Ehen als »nejchar«, also als nichtjüdisch gelten. Malachi 2, 10–16 bezeichnet die zweite Ehe zu einer nichtjüdischen Frau als besondere Untreue.
Im Buch Ruth sterben die zwei Männer, die sich moabitische Frauen nahmen, früh. Erst als Ruth ihre Loyalität zum Judentum sehr stark und tief überzeugend verkündet, kann sie aufgenommen, und ihr späteres Kind Teil des jüdischen Volkes werden. In Richter 14:3 kritisieren die Eltern von Samson ihren Sohn: »Ist denn keine Frau unter den Töchtern deiner Brüder oder unter meinem Volk, dass du hingehst und eine Frau nimmst bei den Philistern, die unbeschnitten sind?«
Auch König Salomon wurde für seine Liebe zu zahlreichen nichtjüdischen Frauen stark kritisiert. In I Könige 11:1-7 wird die Gültigkeit seiner Ehen mit den nichtjüdischen Frauen aberkannt: statt lakach (genommen, geheiratet) verwendet der Prophet die Verben ahaw (lieb haben) und wajihju lo (er hatte), obwohl in 3:1 seine Ehe mit der Tochter des Pharaos noch mit Wajitchaten und wajikach wesentlich positiver eingestuft wurde.
Die Behauptung, dass die jüdische Identität einst über die väterliche Linie weitergegeben wurde, erscheint manchen glaubhaft, weil der Pentateuch weder der interkonfessionellen Ehe noch der Patrilinearität ausdrücklich widerspricht. So scheint es wenigstens auf den ersten Blick. Doch es stimmt nicht, dass der Pentateuch zur Matrilinearität schweigt.
Wenn wir uns vor Augen halten, dass der ganze Tanach 1500 Jahre Geschichte (ohne mit der Geschichte vor Abraham Rechnung zu halten) und 613 Ge- und Verbote in lediglich 304,901 Wörtern erzählt, dann wird schnell klar, dass nicht erwartet werden kann, dass jedes Thema im Detail ausgelegt wird. In der Originalfassung von Harry Potter und der Stein der Weisen gibt es fast so viele Wörter (76‘944) wie im gesamten Pentateuch (79‘847); Harry Potter und der Halbblutprinz hat wesentlich mehr Wörter (168‘923), als die gesamten Propheten im Tanach (141‘414). Wir dürfen also nicht erwarten, dass alles in der Länge und der Breite ausgelegt ist. Dass dennoch so viele Stellen auf die Matrilinearität hinweisen, unterstreicht deren Bedeutung.
Bezüglich des Kindes einer jüdischen Tochter, die einen Nichtjuden heiratet, macht sich die Schrift Sorgen. So heißt es (Dewarim/5. B.M. 7:3–4): »Du sollst deine Töchter nicht seinem Sohne geben, noch ihre Töchter für deinen Sohn nehmen; denn er (der nichtjüdische Schwiegersohn) wird deine Söhne (also Enkelkinder) von mir abwendig machen.« Dass aber die nichtjüdische Schwiegertochter die Enkel »abwendig von G’tt« macht, darüber sagt die Tora kein Wort. Wieso macht sich die Schrift keine Sorgen über solche Enkelkinder, die ja auch „abwendig von G“tt“ gemacht werden? Es sei denn, dass die Kinder der nichtjüdischen Schwiegertochter ja ohnehin nicht jüdisch sind. Dass dies die richtige Interpretation des Textes ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Esra 9:2 im Wortlaut an die obige Stelle im 5. Buch Mose erinnert: »Denn sie haben deren Töchter genommen für sich.«
Die halachische Regel der Matrilinearität steht also längst fest. Sie ist in der Mischna und im Talmud ausgelegt und verankert. Sie wird sich auch nicht ändern. Zwar erkennt die Reformbewegung in den Vereinigten Staaten Vaterjuden seit 1983 an. Trotzdem geht es deren Gemeinden nicht besser. Die Verwässerung wesentlicher jüdischer Prinzipien führt nicht zu einer breiteren und tieferen Verbindung mit der jüdischen Gemeinschaft und dem Judentum, sondern zu Gleichgültigkeit. Unmittelbar gewinnt man vielleicht ein paar Mitglieder, langfristig aber geht das Schiff unter. Oder wie der ehemalige britische Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks sagt: »When Judaism is easy, people lose faith.«
Warum also sollte eine jüdische Gemeinde oder sollen jüdische Schulen, Jugendzentren und Ferienlager Vaterjuden, das heißt Nichtjuden jüdischer Herkunft, aufnehmen? Damit man den Konflikt, in dem diese Menschen bereits leben (nämlich, dass sie unter Nichtjuden als Juden und unter Juden als Nichtjuden gelten), auf weitere Menschen überträgt und damit dafür sorgt, dass es noch mehr interkonfessionelle Ehen geben wird? Damit Entscheidungen von Leuten getroffen werden, die (solange sie sich nicht entscheiden, zu konvertieren) das Judentum zwar unterstützen, aber nicht zur jüdischen Zukunft gehören können?
Eine viel bessere Lösung ist es, innerjüdische Ehen zu fördern – und für die, die es ernsthaft wollen, den Weg zu einer anerkannten Konversion zu ermöglichen. Anderen Interessenten kann man ein kulturelles Programm anbieten, zum Beispiel als Mitglieder eines Vereins der Freunde einer jüdischen Gemeinde vor Ort. Ein solcher Verein sollte Menschen jüdischer Abstammung, aber auch anderen offenstehen.