
Ist das das Bild eines Möchtegern-Nasirs?
[Ein Einsiedler] sein oder nicht sein, das ist die Frage
Die ausführlichere Fassung meines Aufsatzes im PUNKT N°097
Welcher ist der ideell-religiöse Zustand des Menschen? Soll er sich von dem Materiellen trennen, sich in Einsamkeit den religiösen Werten widmen, soll er von den üblichen Zeitvertrieben der Menschen absehen, oder darf und soll er sein religiöses Leben als ein in der Menschenwelt verwurzelter Mensch entfalten lassen? Es ist fast ein Cliché, dass das Judentum die religiöse Praxis im Diesseits wünscht, dass es im Judentum um die Heiligung des täglichen, normalen Leben geht. Aber eine besondere Mizwá erschwert uns, dieses Cliché in Stand zu halten: die des Nasiräertums.
אִ֣ישׁ אֹֽו־אִשָּׁ֗ה כִּ֤י יַפְלִא֙ לִנְדֹּר֙ נֶ֣דֶר נָזִ֔יר לְהַזִּ֖יר לַֽיהוָֽה׃ מִיַּ֤יִן וְשֵׁכָר֙ יַזִּ֔יר חֹ֥מֶץ יַ֛יִן וְחֹ֥מֶץ שֵׁכָ֖ר לֹ֣א יִשְׁתֶּ֑ה וְכָל־מִשְׁרַ֤ת עֲנָבִים֙ לֹ֣א יִשְׁתֶּ֔ה וַעֲנָבִ֛ים לַחִ֥ים וִיבֵשִׁ֖ים לֹ֥א יֹאכֵֽל׃ כֹּ֖ל יְמֵ֣י נִזְרֹ֑ו מִכֹּל֩ אֲשֶׁ֨ר יֵעָשֶׂ֜ה מִגֶּ֣פֶן הַיַּ֗יִן מֵחַרְצַנִּ֛ים וְעַד־זָ֖ג לֹ֥א יֹאכֵֽל׃ כָּל־יְמֵי֙ נֶ֣דֶר נִזְרֹ֔ו תַּ֖עַר לֹא־יַעֲבֹ֣ר עַל־רֹאשֹׁ֑ו עַד־מְלֹ֨את הַיָּמִ֜ם אֲשֶׁר־יַזִּ֤יר לַיהוָה֙ קָדֹ֣שׁ יִהְיֶ֔ה גַּדֵּ֥ל פֶּ֖רַע שְׂעַ֥ר רֹאשֹֽׁו׃ כָּל־יְמֵ֥י הַזִּירֹ֖ו לַיהוָ֑ה עַל־נֶ֥פֶשׁ מֵ֖ת לֹ֥א יָבֹֽא׃
Wenn ein Mann oder eine Frau sich abgrenzen wird mit dem Eingehen eines Nasiritengelübde, sich HASCHÉM zuliebe zu enthalten, so soll er sich des neuen und alten Weins enthalten; Essig von Wein und Essig vom alten Wein soll er nicht trinken; irgend etwas, in dem Trauben eingeweicht wurden, soll er auch nicht trinken und weder frische noch getrocknete Trauben essen. Während der ganzen Dauer seiner Enthaltsamkeit soll er nichts essen, was vom Weinstock gewonnen wird, weder Kern noch Hülse soll er essen. Während der ganzen Dauer seines Gelübden der Enthaltsamkeit soll kein Schärmesser auf sein Haupt kommen, bis die Zeit, die er HASCHÉM zuliebe geweiht hat, vergangen ist, soll er heilig sein; er soll das Haar auf seinem Haupt frei wachsen lassen. Während der ganzen Zeit, für die er sich HASCHÉM geweiht hat, soll er zu keinen Toten gehen. (Bamidbár 6:2-6)
Stellt der Nasír das Ideal dar? Soll jeder Jude – Mann wie Frau – dieses Verhalten anstreben?
Von einem Nasír, der – sogar unerwarteterweise – eine Leiche oder ein Grab nahe gekommen ist, heißt es: Die Tage der Nesirút, die er bis dann eingehalten hat, werden nichtig, und bevor er seine Nesirút wieder anfängt, soll er tahór (rituell rein) werden und einige Opfer bringen:
וְכִֽי־יָמ֨וּת מֵ֤ת עָלָיו֙ בְּפֶ֣תַע פִּתְאֹ֔ם וְטִמֵּ֖א רֹ֣אשׁ נִזְרֹ֑ו … וְעָשָׂ֣ה הַכֹּהֵ֗ן אֶחָ֤ד לְחַטָּאת֙ וְאֶחָ֣ד לְעֹלָ֔ה וְכִפֶּ֣ר עָלָ֔יו מֵאֲשֶׁ֥ר חָטָ֖א עַל־הַנָּ֑פֶשׁ
Und wenn jemand bei ihm unerwartet oder plötzlich stirbt und das Haupt seiner Enthaltsamkeit tamé (rituell unrein) wird, … Und der Kohén (Priester) soll den einen [Vogel] zu ein Sühneopfer und den anderen zu ein Ganzopfer machen und ihm Sühne erwirken, von seiner Versündigung an einer Seele [d.h., an einer Leiche]. (Bamidbár 6:9-11)
Die oben erwähnten Worte erwecken die Frage, worin genau die Sünde des Nasírs besteht. Diese Frage beschäftigt verschiedene klassische Kommentatoren intensiv.
Raschí antwortet in erster Linie, dass die Sünde des Nasír darin besteht, dass er sich eine Leiche angenähert hat, was er ja nicht darf.
Diese Interpretation ist aber schwierig. Weshalb soll dies dem Nasír als Sünde angelastet werden? Die Annäherung an eine Leiche oder ein Grab ist ja versehentlich und unerwartet geschehen.
Ibn Esrá trägt dieser Beanstandung Rechnung, in dem er erklärt, dass der unerwartete Kontakt mit einem Toten zwar nicht die Hauptsünde ist, sondern weist das unabsichtigtes Ereignis darauf, dass jener besondere Nasír im allgemeinen ein Sündner ist; nach der Mischná: Die Auswirkung einer Sünde ist eine weitere Sünde; der [dubiose] “Verdienst” einer Sünde schliesst eine weitere Sünde ein. (Ben Asáj, Awót 4:2). Mit den Opfern, die bei der versehentlichen Entweihung des Nasírs gebracht werden, sollen dem Nasír – selbstverständlich erst nachdem er die Bedeutung der versehentlichen Entweihung begreift und Teschuwá macht (rückehrt) – auch die unbekannten früheren Sünden verziehen werden.
Die obigen Erklärungen sind dennoch schwierig, denn nicht nur der Nasír, der während seiner Nesirút-Zeit plötzlich tamé wurde, muss ein Sühneopfer (Korbán Chattát) bringen; jeder Nasír bringt ja auch ein Sühneopfer, wenn er seine Nesirút-Zeit pflichtgemäss abgeschlossen hat.
Wahrscheinlich zitiert Raschí (ad. loc.) genau deshalb die Meinung Rabbi El’asár haKapárs, aus dem Sifréj (§30), dass die Sünde nicht G”tt, sondern sich selbst gegenüber gemacht wurde, “denn er hat sich gepeinigt, indem er sich vom Wein zurückhielt.” Diese Interpretation wirkt zwar seltsam – soll es eine Sünde sein, sich einem Genuss zu enthalten? – und verlangt, erklärt zu werden. Immerhin gibt diese Erklärung den klaren Eindruck, dass es normalerweise besser wäre, keine Nesirút-Gelübde abzulegen.
Dem gegenüber steht Rambán (Nachmanides), der die Ansicht des Rabbi El’asár haKapárs nicht teilen kann und ihm gar nicht erwähnt. Nach Rambáns Ansicht besteht die Sünde darin, dass dieser Mann, der sich für die Nesirút entschieden hat, oder die Frau, die sich dafür entschieden hat, besonders heilig geworden ist. Einmal, dass er oder sie die Nesirút abschliesst, kehrt die Person auf die normale existentielle Ebene zurück. Es ist genau dieser Rückgang, diese Entfernung von der persönlich-heiligen Existenz die sündhaft ist.
Klar ist es nach Rambán wünschenswert, immer in dem Zustand des Nasírs zu sein. Dass die Torá aber doch eine zeitbegrenzte Nesirút erlaubt, wird damit begründet, dass die meisten Menschen sonst nie das heilige Leben des Enthaltens1 erfahren würden.
Kelí Jakár (Rabbi Efrájim Ben Schelomó aus Lunschitz, Polen, 1550-1619) stellt die Erklärung Rabbi El’asár haKapárs in Frage, denn die Lehre, dass der Kohén dem Nasír “Sühne erwirken wird, das er sich an einer Seele versündigt hat”, nur bei der Unterbrechung der Nasír-Weihe in der heiligen Schrift steht und nicht beim Nesirút-Abschlussritual. Deshalb schlagt Kelí Jakár unter anderem vor, dass die Enthaltsamkeit nur dann erlaubt ist, wenn es einen geistigen Gewinn bringt. Da aber durch eine versehentliche Entweihung die früheren Tage der Nasír-Weihe aufgehoben wurden, hat der Nasír sich schliesslich während jener Zeit umsonst vom Wein zurückgehalten. Es hat ihm nichts Geistiges gebracht und wird deshalb rückwirkend sich selbst gegenüber eine Sünde.
Diese Erklärung bezeichnet Kelí Jakár als פֵּרוּשׁ יָקָר, eine wertvolle Interpretation. Es scheint, dass Kelí Jakár damit sagen wollte, dass die Erklärung zwar schön ist, aber nicht befriedigend wirkt. Deshalb gibt er anschliessend eine andere Erklärung.
Im normalen religiös geprägten Leben besteht kein Bedürfnis nach einer mit einem Gelübde verbindlichen Enthaltung. G”tt befahl uns bereits 613 Mizwót, davon 365 Verbote, und das Wort G”ttes soll reichen, dass der Mensch sich ehrlich, moralisch und religiös verhält. Unter normalen Umständen soll der Mensch deshalb vermeiden, Gelübde auszusprechen, aus Furcht, dass manchmal ein Gelübde nicht eingehalten wird, was immerhin das Übertreten eines biblischen Verbot mit sich bringt.
Wer dann braucht die Möglichkeit, zusätzlicher Gelübde – der nasiritischen Enthaltung, aber auch sonstige Gelübde – ablegen zu können? Der, der ohne diese zusätzliche Hilfsmittel es bisher nicht geschafft hat, sich von Sünden abzuhalten. Es ist der Sündner, oder der, der sich immer wieder geneigt fühlt zu sündigen, der mit einem extremen Schritt, wie etwa dem Sprechen eines Nesirút-Gelübde versucht, sich zurück auf den geraden Weg zu bewegen. Daher befiehlt die Torá dem Nasír, zum Abschluss der Nesirút ein Sündenopfer zu bringen; damit wird ihm der Sündentrieb, gegen welchem er das Nasír-Gelübde ausgesprochen hatte, verziehen.
Fazit
Die Frage, ob die Lebensart des Einsiedlers das Ideal ist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits gibt es zwar die Meinung des Rabbi El‘asár haKapárs, dessen Aussage von Raschí und Kelí Jakár unterstützt wird, anderseits ist Rambán klar der Ansicht, dass das Leben des Enthaltens das Ideal ist. Dazu zeigt die Erklärung des Ibn Esrá darauf, dass auch er die Aussage des Rabbi El‘asár haKapár zurückwies. Das Leben des Einsiedlers ist aber nicht für jeden geeignet.
Aber sowohl Raschí als Kelí Jakár zeigen ein differenziertes Verständnis, das einerseits die Enthaltung zwar missbilligt, sie aber andererseits von Umständen sprechen, die die Enthaltsamkeit unentbehrlich machen. Zur Frage weshalb das Gesetz des Nasiräertum genau anschliessend nach dem Gesetz der Sotá steht, der Frau die des Ehebruchs verdächtigt wird, antwortet Raschí (6:2): הָרוֹאֶה סוֹטָה בְּקִלקוּלָה יַזִיר עַצְמוֹ מִן הַיַּיִן – “Der, der eine Sotá in ihrem Untergang sieht, soll sich des Weins enthalten”. Die Antwort zur Ansicht der Verderbtheit ist eine Enthaltsamkeit. Kelí Jakár sagte ähnliches, wenn er es billigte, dass ein Sünder mittels eines Gelübdes sich zum gerade Weg bewegen sollte.
Die Gesellschaft in welcher wir leben hat zwar auf vielen Gebieten grosse Fortschritte gemacht, nicht aber zwingend auf dem Gebiet der Moral. Es ist deshalb angemessen, einerseits innerhalb der Gesellschaft zu leben, anderseits sich aber auch von ihr in jener Hinsicht fernzuhalten, in dem moralische Juden sich von ihren verderblichen Aspekten fernstens weghalten.
Der obige Aufsatz basiert auf einem Schi'úr des Rabbiner Folger zu Paraschát Nassó 5767; er wurde teilweise von Herrn Gabriel Hausmann, sowie von Frau Anna Rabin revidiert. Dank sei ihnen hier ausgesprochen. Österreichische Leser, verzeihen Sie bitte die schweizer Rechtschreibung; der Aufsatz wurde ursprünglich in 2009 gepostet.
1Es darf hier angemerkt werden, das der Nasír keine besondere zusätzliche Sexualeinschränkungen kennt. Sogar der Kohén Gadól, der in einem formellen Sinn der heiligste Mann des Volkes ist, musste verheiratet sein. Dieses Thema aber ist äusserst komplex und kann nicht im Ramen dieses Schi‘úrs ausgelegt werden.
>>Sogar der Kohén Gadól, der in einem formellen Sinn der heiligste Mann des Volkes ist, musste verheiratet sein
Stimmt zwar, jedoch dürfte es ein Ding der Unmöglichkeit sein, dass er während der Vorbereitungen / an JK selbst die Ehe auslebt. Genauso wie Mose sich ja auch von Tzipora (oder wem auch immer) ferngehalten hat, trotz formaler Aufrechterhaltung der Ehe.
Diese beiden Sonderfälle stellen weiterhin einen Steigbügel für die christlichen Kirchen, um von deren (höheren) Kirchenbeamten wenigstens die Enthaltung während der Dienstjahre zu fordern.
Aber G-tt sei Dank, argumentiert kaum einer von denen auf Basis dieser zwei Gegebenheiten.
Aus jüdischer Sicht ist es absurd, dass irgendjemand sich zu Moses vergleichen können soll. “Es stand aber in Israel kein Prophet mehr auf wie Mose, welchen der Ewige kannte von Angesicht zu Angesicht” (5. B.M. 34:10)
Bliebe dann aber der Hohepriester während JK (wobei ja selbst einem Israel spezifisch an JK nach sämtlichen Meinungen der Taschmisch untersagt ist). Wieso scheidet diese Situation als Vorwand für zölibatäre Ansinnen aus?
Dass Menschen für einige Tage im Jahr wie im Zölibat leben, insbesondere zu Jom Kippur, stimmt zwar, aber wozu musste sogar der Hohepriester selbst verheiratet sein? Weil das Mainstream-Judentum eben das Zölibat ablehnt, mit Ausnahme von Moses im letzten Drittel seines Lebens. Allerdings gab es eine jüdische Sekte, die das Zölibat Prozess, die Essenen, die aber ohnehin als abtrünnig heilen.
Es dürfte Sie interessieren, dass die Auslegung der Einzigartigkeit Mose zu den grundlegend unterschiedlichen Auffassungen zwischen Katholiken und Juden zählt. Das kam in meiner Korrespondenz und Begegnung mit Benedikt zu Ausdruck. Allerdings habe ich diesen Aspekt bisher nicht veröffentlicht, aber das dürfte in einem künftigen Buch nachgeholt werden.