Was ist Heimat?

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Austrian-German_Swiss_flags-tinyAls Jude kann man sich tief mit Israel verbunden fühlen und zugleich ein guter Europäer, ja sogar beim Fußball ein Lokalpatriot sein. Es ist auch moralisch wichtig, darüber nachzudenken, wie Staaten mit den Fragen der Zugehörigkeit ‒ zu einem Land, zu einer Religion ‒ umgehen. Mancherorts sind vor langer Zeit mühsam errungene Freiheiten in Gefahr.

[Erschien im jüdischen Echo Band LXVII, hier erhältlich]

Während ich diese Zeilen schreibe, empfinde ich eine merkwürdige Euphorie. Obwohl ich in meinem Leben kaum Fußball gespielt habe und noch wesentlich weniger Fußballspielen zugeschaut habe, freute ich mich über den Sieg der Roten Teufel – der belgischen Nationalmannschaft – gegen Japan im Achtelfinale der Weltmeisterschaft. Trotz eines katastrophalen Spielverlaufs, der die Japaner zu Beginn der zweiten Hälfte mit zwei Toren in Führung sah, gelang es den Roten Teufeln in der Folge auszugleichen und in der allerletzten Spielminute noch ein drittes Tor zu schießen und so das Spiel zu gewinnen.

Dass ich mich darüber freue, ist allerdings merkwürdig. Wie gesagt, verfolge ich den Fußball sonst überhaupt nicht. Außerdem lebe ich seit über 25 Jahre außerhalb Belgiens. Keiner meiner Eltern wurde in Belgien geboren. Ich habe zwar sehr tiefe Wurzeln in Europa, nicht aber in meiner belgischen Heimat, trotzdem bin ich stolz auf sie! Dieses Gefühl der Verbundenheit ist Heimat.

Toll, dass wir unseren Patriotismus und den nationalen Stolz so ausleben können. Jahrhundertelang taten wir es nicht sportlich, sondern auf dem Schlachtfeld, heute aber leben wir in einer friedlicheren Welt.

In der gleichen Woche lese ich in den Nachrichten, wie die Stimmung in Dänemark bezüglich der Flüchtlinge gekippt ist.i Das Land, das wie ganz Skandinavien während vieler Jahre mit großem Idealismus eine überproportionale Zahl an Flüchtlingen und anderen Zuwanderern aus dem Maghreb und aus Nahost aufgenommen hat,ii hat ein Gesetz verabschiedet, das 25 wirtschaftlich schwache Ghettozonen mit sehr hohem Anteil an Migranten identifiziert und die Bevölkerung jener Zonen gesetzlich zu verschiedenen Maßnahmen verpflichtet, damit diese Migrantenfamilien sich besser assimilieren. Man redet nicht mehr über Integration, und erst recht nicht von Multikulturalismus, sondern fordert Assimilation. So sollen Kinder, die in diesen Ghettozonen geboren werden, ab ihrem ersten Geburtstag wöchentlich wenigstens 25 Stunden – Nachmittagsschlaf nicht eingeschlossen – außerhalb der Familie in einer dänischen Kinderkrippe bzw. einem Kindergarten sein, wo sie nicht nur die dänische Sprache und Kultur erlernen, sondern ausdrücklich auch Weihnachten und Ostern erleben. Sollte sich eine Familie nicht fügen, dann wird die Familienbeihilfe gestrichen. Für alle anderen dänischen Familien gilt die Schulpflicht erst ab sechs Jahren.

Ein weiteres Gesetz macht es für Zuwanderer strafbar, ihre Kinder für längere Zeit in ihre ursprüngliche Heimat zu senden. Das Gesetz nennt solche Reisen eine Umerziehung, sieht darin einen Prozess, der die Akkulturation und Assimilation in die dänische Gesellschaft verhindern kann, und verhängt deshalb für die Eltern bis zu vier Jahren Haft.

Diese drakonischen dänischen Gesetze bilden den bisherigen Höhepunkt einer Entwicklung, die wenigstens seit den 1990er-Jahren in Gang ist: Dänemark, das vorbildliche Land des internationalen Multilateralismus und der Kooperation, hat seither fast ununterbrochen seine Zuwanderungsgesetze verschärft,iii nachdem es zusah, wie die Integration der Neuzuwanderer ungenügend erfolgreich war. Seit der massiven Zunahme solcher Zuwanderer während der syrischen Flüchtlingskrise kennt das Land einen starken Rechtsruck, der zum neuesten Gesetz und zu diesen Ghettozonen führte.

Obwohl die Verschärfung der dortigen einst sehr liberalen Zuwanderungsgesetze teilweise einen Versuch darstellen, die Zuwanderer auf Dauer erfolgreicher zu integrieren, glaube ich, dass die meisten Leser des „Jüdischen Echo“ einverstanden sein werden, dass Aspekte dieses Gesetzes besonders drakonisch sind. Wenn das Erlebnis christlicher Feiertage zum Pflichtfach wird, dann drohen die roten Linien der Religionsfreiheit sicherlich überschritten zu werden.

Dieses Gesetz vermischt zwei ganz andere Aspekte der Integration, die moralisch nicht gleichwertig sind. Einerseits geht das Gesetz auf das Bedürfnis der lokalen Bevölkerung auf physische und wirtschaftliche Sicherheit ein. Anderseits vermögen diese Gesetze Zuwanderer zu zwingen, ihre eigene Kultur aufzugeben und vollwertige Dänen zu werden. Dänemark will also, dass Zuwanderer ihre Heimat aufgeben und ihre neue Wahlheimat als einzige oder dominante Heimat empfinden. Wenn dazu auch Elemente einer anderen Religion gehören, dann wird sogar erwartet, dass die Zuwanderer auch das akzeptieren.

Die zwei obigen Beispiele von Heimatgefühl sind zwei sehr unterschiedliche Aspekte des Begriffs Heimat. In dem einen Fall ist Heimat ein Gefühl, das auf friedliche Art und Weise gelebt und gefeiert wird, im anderen eine Lebensweise, die dank der staatlichen Gewalt aufgezwungen wird, weil die ursprüngliche dänische Bevölkerung fürchtet, die Geborgenheit ihrer Heimat zu verlieren.

Wer sich Sorgen um das Fortbestehen der europäischen liberalen Demokratie macht, muss sich mit dem Begriff Heimat auseinandersetzen, um die Sorgen jener zu verstehen, die befürchten, ihre Heimat zu verlieren, und deshalb für schärfere Zuwanderungsgesetze plädieren. Zugleich setzt eine erfolgreiche Integrationspolitik voraus, dass man Zuwanderer und ihre Bedürfnisse zu verstehen versucht.

Was ist also Heimat?

„Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“, schreibt Stefan Kuzmany im „Spiegel Online“.iv „Wo mich die Menschen verstehen, wo ich mich nicht verstellen muss, wo Leute sind, die ich mag und die mich mögen, da bin ich daheim.“

Dass Heimat mehr Gefühl als Ort ist, vermittelt auch ein Gedicht von Martin Greif alias Hermann Frey (1839‒1911):

Meine Heimat liegt im Blauen,
fern und doch nicht allzu weit,
und ich hoffe sie zu schauen
nach dem Traum der Endlichkeit
Wenn der Tag schon im Versinken
und sein letztes Rot erbleicht,
will es manchmal mir bedünken,
daß mein Blick sie schon erreicht.v

Die Heimat von Martin Greif ist eine, nach der man sich sehnt, die man aber nie erreicht; es ist kein physischer Ort ist, der diese Gefühle erweckt. Nicht so für Volkmar Frank (*1962), der in einem Gedicht schreibt:

Heimat
wo ich aufwuchs, wo ich lebte
wo mein Herz das erste Mal erbebte
woran ich denke als ich Kind
wo meine Eltern heut noch sind
wo immer eine helfende Hand
bei ihnen in der Not ich fandvi

Für Volkmar Frank ist Heimat also dort, wo er aufwuchs und wo seine Familie lebt. Es ist ein Ort, der ihm vertraut ist. Das Gleiche betont die zugewanderte Frankfurterin Zahra Mohammadzadeh, wenn sie schreibt: „Heimat bedeutet für mich zuallererst Erinnerung an meine Kindheit und Jugend. Heimat ist ein ganzes Bündel solcher Erinnerungen: an Orte, an Menschen, an Situationen, an den Geschmack einer Lieblingsspeise oder den Duft eines Baumes im Garten meiner Tante, unter dem ich immer spielte. Dann ist Heimat so etwas wie ein innerer Raum der Besinnung, der Geborgenheit.“vii

In der Bibel wird Abram (der spätere Abraham) bekanntlich aufgefordert, seine Heimat zu verlassen (Genesis 12:1): „Und der Ewige sprach zu Abram: Geh aus von deinem Land und von deiner Verwandtschaft und von deines Vaters Hause in das Land, das ich dir zeigen will!“ Die Heimat zu verlassen fällt Abraham nicht leicht; wohin er geht, kennt ihn keiner, und er hat weder ein Sicherheitsnetzwerk noch ein Handelsnetzwerk. Der Midrasch Rabba erklärt entsprechend die Aussage im darauffolgenden Vers „So will ich dich zu einem großen Volke machen und dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein“ als eine Antwort auf die Ängste Abrahams. Heimatlos zu werden würde es ihm erschweren, eine Familie zu gründen, deshalb segnet ihn G“tt mit „So will ich dich zu einem großen Volke machen“, und es würde ihn zwingen, sein Lebenswerk wieder vom Grunde auf aufzubauen, da er in Kanaan völlig unbekannt ist. Dafür segnet ihn G“tt mit „dir einen großen Namen machen“.

Die Heimat wird vom Propheten Hoschea als Mutter des Volkes betrachtet (Hoschea 2:4-5, 14):

„Hadert mit eurer Mutter, hadert! (denn sie ist nicht mein Weib, und ich bin nicht ihr Mann), damit sie ihre Hurerei von ihrem Angesicht wegschaffe und ihre Ehebrecherei von ihren Brüsten; sonst werde ich sie nackt ausziehen und sie hinstellen, wie sie war am Tage ihrer Geburt, und sie der Wüste gleichmachen, einem dürren Land, und sie sterben lassen vor Durst! (…) Ich will auch ihren Weinstock und ihren Feigenbaum verwüsten, wovon sie sagt: ‚Das ist der Lohn, den mir meine Liebhaber gegeben haben‘; ich will sie in eine Wildnis verwandeln, wovon sich die Tiere des Feldes nähren sollen.“

Mit der Metapher der Mutter meint Hoschea sowohl das Land als auch das Volk, das, während das Land sich in einer Wüste verwandelt, auch noch ins Exil geht (ebd. 2:8): „Darum siehe, ich will ihren Weg mit Dornen verzäunen und mit einer Mauer versperren, dass sie ihren Pfad nicht mehr finden soll.“ Erst nach der Versöhnung mit G“tt wird das Volk zurückkehren und das Land wieder gedeihen (ebd. 2:16, 24-25):

„Darum siehe, ich will sie locken und in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden; (…) und die Erde wird antworten mit Korn, Most und Öl, und diese werden Jesreel antworten. Und ich will sie mir im Lande ansäen und mich der ‚Unbegnadigten‘ erbarmen und zu ‚Nicht-mein-Volk‘ sagen: Du bist mein Volk! und es wird sagen: Du bist mein G“tt!“

Bedingte Akzeptanz

Zurück zu Abram. Aus Abrams Wegzug von Ur-Kasdim und Charan entsteht eine neue Herausforderung, die Adoption einer neuen Heimat. Dies gelingt ihm nur zum Teil. Einerseits wird er – nach dem oben erwähnten Segen G“ttes – persönlich akzeptiert. Nachdem Abram gegen eine multinationale feindliche Koalition aus Mesopotamien kämpft und die Kriegsgefangenen aus den fünf Städten Sodoms befreit, sagen sie ihm in einer Laudatio bei der Siegesfeier (Genesis 14:19-20): „Gesegnet sei Abram vom allerhöchsten G“tt, dem Besitzer des Himmels und der Erde, und gelobt sei G“tt, der Allerhöchste, der deine Feinde in deine Hand geliefert hat!“ Als Abram, der mittlerweile Abraham heißt, Jahrzehnte später seine verstorbene Ehefrau Sara beerdigen will, sagen die Chititer zu ihm (ebd. 23:6): „du bist ein Fürst G“ttes mitten unter uns“ und zeigten damit, wie weitgehend er akzeptiert und in der lokalen Gemeinschaft aufgenommen wurde. Dennoch wird ihm gleich klar, dass diese Akzeptanz beschränkt ist; ehren tun sie ihn, aber Land wollen sie ihm nicht gönnen. Abraham merkt direkt, wie hinter ihrem Angebot, ihm ein Grab unentgeltlich zu Verfügung zu stellen, eigentlich die fundamentale Weigerung steht, ihm zu ermöglichen, Landbesitzer zu werden. Erst als er die Bereitschaft zeigt, den unerschwinglich hohen Preis von 400 Schekel zu zahlen, bleibt dem Anführer von Hebron nichts anderes übrig als zuzusehen, wie Abraham doch Landbesitzer wird.

Dass Abraham trotz allen Bemühungen nie völlig aufgenommen wird und seine Nachkommen lange warten müssen, bis sie beheimatet werden, ergibt sich auch aus dem „Bund zwischen den Stücken“ – Berit Bejn haBetarim. So fügt G“tt nach der Bundesschließung hinzu (ebd. 15:13): „Du sollst für gewiss wissen, dass dein Same fremd sein wird in einem Lande, das nicht ihm gehört; und daselbst wird man sie zu dienen zwingen und demütigen vierhundert Jahre lang.“ Nach dem jüdischen Verständnis wird hier nicht nur vom ägyptischen Exil gesprochen, das nach der jüdischen Tradition wesentlich kürzer als 400 Jahre dauerte, sondern von der gesamten Existenz des „Samen Abrahams“ bis zur Erlösung aus Ägypten. In anderen Worten beschreibt „dein Same fremd sein wird in einem Lande, das nicht ihm gehört“ auch die Welt, in der Isaak und Jakob aufwuchsen, eine Welt, in der die Familie Abrahams trotz allen Bemühungen nie vollständig beheimatet wurde.

August von Platen-Hallermünde (1796‒1835, geboren als Graf Karl August Georg Maximilian von Platen-Hallermund), fasste diese Herausforderung aller Zuwanderer treffend zusammen:

Mein Geist, bewegt von innerlichem Streite,
Empfand so sehr in diesem kurzen Leben,
Wie leicht es ist, die Heimat aufzugeben,
Allein wie schwer, zu finden eine zweite.

Die alte Heimat

Eine besondere Qualität des Heimatsgefühls ist, dass man die Heimat mag und mit ihr so eng verbunden ist, dass man ihre Fehler den Qualitäten anderer Orte vorzieht. Als Sennacheriw Jerusalem belagert, versucht sein Vertreter Rabschakeh, den König Hiskia zu schwächen, und spricht ihn und das Volk in hebräischer Sprache an (Jeschaja 36:13, 16-17):

„Also trat Rabschake hervor und schrie mit lauter Stimme auf judäisch und sprach: Höret die Worte des großen Königs, des Königs von Assyrien! (…) Folget dem Hiskia nicht! Denn also spricht der König von Assyrien: Machet Frieden mit mir und kommt zu mir heraus, so soll jedermann von seinem Weinstock und von seinem Feigenbaum essen und das Wasser seines Brunnens trinken, bis ich komme und euch in ein Land führe, das eurem Lande gleich ist, ein Land, darin Korn und Most ist, ein Land, darin Brot und Weinberge sind.“

Obwohl zwei Bücher der Bibel diese Geschichte dokumentieren, ist uns kein Aufstand bekannt, in dem Untertanen Hiskias das Angebot von Sennacherib und Rabschakeh akzeptierten; Israel und Jerusalem waren ihnen lieber als die Weinberge Assyriens.

Und die Moral des Heimatschutzes?

Heimat ist also ein tiefes menschliches Bedürfnis. Welche moralischen Leitlinien erlauben uns, eine Heimat zu schützen, und was ist moralisch nicht haltbar? Es ist schwer, eindeutige Regel zu formulieren, aber die Halacha (das jüdische Religionsgesetz) bietet schon Anhaltspunkte. Der Talmud (Bawa Batra 20b-22a) und die Codices (cf. Schulchan Aruch Choschen Mischpat 156) sprechen von Cheskat haJischuw, der besonderen Rechte der etablierten Einwohner einer Ortschaft, die sie schützen dürfen. Im Mittelalter spricht man zudem auch von Cherem haJischuw, einem Bann, der verhindern soll, dass Neuzuwanderer gegen den Takkanot, die Gesetze der Gemeinde und die Vereinbarungen mit der Regierung verstoßen.viii Zu diesem Bann schreibt Rabbi Chasdai Crescas (1340-1410/11):

„Unsere Ahnen haben den Cherem Hajischuw (den Bann der Ansiedlung) nur eingeführt wegen gewalttätiger Menschen und solchen, die sich nicht den Gesetzen der Gemeinschaft fügen und keine Steuern zahlen wollen, aber gegen anderen Menschen gibt es keinen Bann.“ix

Im „Jüdischen Echo“ von 2016 argumentierte ich,x dass keine absolute moralische Pflicht besteht, alle Zuwanderer und Flüchtlinge aufzunehmen. Zwar sind sehr viele Bona-fide-Flüchtlinge, aber nach dem jüdischen Religionsgesetz gibt es Grenzen zu den Pflichten der Wohltätigkeit. Gleichzeitig argumentierte ich, dass es einerseits moralisch nicht zumutbar sei zuzusehen, wie Menschen verhungern oder sich vor der Kälte nicht schützen können, dies jedoch dennoch nicht bedeute, dass alle Grenzen einfach geöffnet werden sollen, wobei es aber eine aufrechte Sache sei, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wenn es dafür einen gesellschaftlichen Konsens gebe. Dieser Konsens sei auf demokratische Weise herzustellen. (Jetzt, zwei Jahre später, gibt es so einen Konsens zunehmend nicht mehr, obwohl er schon wieder hergestellt werden könnte.)

Die Aufgabe der Religionen bestünde deshalb nicht aus einer politisch parteiischen Linie, sondern die religiösen Würdenträger hätten viel eher die Pflicht, darauf zu achten, dass die demokratische Diskussion zu jeder Zeit innerhalb der breiten moralischen roten Linien geführt wird.

Entsprechend ist es moralisch schon vertretbar, Gesetze einzuführen, die verhindern sollen, dass mit einer massiven Zuwanderung die Kriminalität zunimmt. Ob die Kriminalität tatsächlich gestiegen ist oder nicht, ist ein anderes Thema; um darüber Aufschluss zu erlangen, müssen die Kriminalstatistiken herangezogen werden. In der Annahme aber, dass bestimmte Delikte bei solchen Völkerwanderungen zunehmen könnten, sind die Verschärfungen des Strafgesetzes moralisch vertretbar.

Was aber wesentlich weniger vertretbar ist, ist, Menschen vor eine unmögliche Wahl zu stellen, Bedingungen für die Aufnahme von Neuzuwanderer zu stellen, die auch friedliche Zuwanderer in ihrer normalen Lebensführung behindern. Sowohl für Neuzuwanderer als auch für Alteingesessene ist die Aufnahme der Neuzuwanderer in ihrer Wahlheimat eine emotionell schwer verdauliche Sache. Mit massiver Zuwanderung ändert sich die Gesellschaft. Genau weil sich dieser Prozess erst langsam, ja sogar erst generationenübergreifend entfaltet, ist es wichtig anzuerkennen, dass Menschen mehr als eine Heimat haben können und dürfen. Der Prophet Hoschea spricht von der Heimat als Mutter. Nun haben Menschen aber zwei Eltern, eine Mutter und einen Vater. So auch können Menschen zwei Heimaten haben. Persönlich bin ich kein israelischer Staatsbürger, fühle mich dennoch tief mit dem Heiligen Land verbunden, und deshalb kein bisschen weniger Europäer. Vater und Mutter.

Ja, G“tt verlangte von Abraham: „Geh aus von deinem Land und von deiner Verwandtschaft und von deines Vaters Hause in das Land, das ich dir zeigen will“, G“tt darf das, Menschen dürfen das aber nicht.

Ebenfalls problematisch ist die Definition der Integration als eine derart weitgehende Assimilation, dass sie verlangt, Elemente der Mehrheitsreligion (unter der Tarnung kultureller Werte) aufnehmen zu müssen. Es sind nur wenige Jahrhunderte her, dass Juden verpflichtet wurden, sich Predigten von christlichen Würdenträgern anzuhören, in der Hoffnung, dass einige oder möglichst viele das Judentum verlassen und dem Christentum beitreten würden. Die modernere Version aus der Aufklärung erwartete zwar nicht mehr, dass Juden Christen werden, sie sollen aber dennoch säkularisiert werden, damit ihre Eigenartigkeiten verschwinden.

Mittlerweile sollte uns allen klar sein, ob Juden, Christen, Moslems, Buddhisten, Hindus oder Atheisten, dass das einen üblen Eingriff in die Gewissensfreiheit darstellt. Ein wesentliches Merkmal der europäischen Gesellschaft, einer ihre Gründungswerte, ist nämlich ausgerechnet die Religionsfreiheit. Die Wurzeln der Religionsfreiheit in Europa liegen im Westfälischen Frieden des Jahres 1648. Nachdem Katholiken und Protestanten in ganz Europa einander lange Zeit die Köpfe einschlugen, kam man endlich zu der genialen Erkenntnis, dass das Gewissen des Menschen derart tief in ihm verankert ist ‒ und dazu gehört eben seine religiöse Überzeugung ‒, dass der Staat dem Menschen die Freiheit geben muss, seine Religion auszuüben, wenn der Staat den inneren Frieden der Gesellschaft gewährleisten will. Dieses Recht entfaltete sich mit Ach und Krach – so wurde die Religionsfreiheit der Juden und ihre daraus folgenden Emanzipation erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vollzogen und sie wurden erst nach der Schoah wirklich akzeptiert (na ja, wirklich akzeptiert? Der Antisemitismus steigt leider wieder) und bildet einen unentbehrlichen Grundpfeiler Europas. Das ist uns zu wichtig, um leichtsinnig damit umzugehen.

Der Kampf gegen den potenziell gewalttätigen religiösen Extremismus ist gerecht. Bereits im Jahr 2015 versandte die Konferenz der Europäischen Rabbiner einen Entwurf zur Bekämpfung dieses Extremismus, in dem für eine Meldepflicht für Zuschüsse und Spenden aus dem Ausland, besonders für die Anstellung religiöser Beamten, sowie für die Abschiebung von Hassprediger argumentiert wird. Einige Elemente dieses Entwurfes flossen schließlich in die Gesetzgebung verschiedener europäischer Länder ein. Dieser Kampf ist legitim, aber auch er muss die Menschenrechte, auch das Recht auf Religionsfreiheit, respektieren.

Leider liegt in Schweden derzeit ein Gesetzesentwurf vor, der sämtliche religiöse Privatschulen verbieten soll.xi Dass jüdische Schulen angeblich nicht betroffen wären, ist nur ein kleiner Trost. In einem Brief an den Premierminister von Schweden betont der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, dass ausgerechnet Schweden sowohl das Schächten verbietet als auch die Knabenbeschneidung drastisch einschränkt, und dort der Antisemitismus stark tobt.xii Die schwedische Politik funktioniert nicht, packt die falschen Probleme an und setzt damit auch noch falsche Signale. Schweden schlägt genau die gegenüber Österreich und Deutschland entgegengesetzte Richtung ein. Der Religionsunterricht wird in Deutschland und Österreich auch an öffentlichen Schulen von Vertretern der Landeskirchen erteilt, die sich auch an die vom zuständigen Ministerium auferlegten Regeln halten müssen.

Konfessionelle Schulen sind ebenfalls zugelassen, sofern sie sich an die entsprechende Gesetzgebung halten. Damit garantieren diese Länder die Religionsfreiheit, das Recht der Eltern, ihre Kinder in ihrer Religion zu unterweisen und zu erziehen, und die Regierung hat die Möglichkeit zu verhindern, dass ungeeignete Lehrkräfte friedensgefährdende Inhalte vermitteln. Nicht so dieser schwedische Gesetzentwurf, der wesentlich in die Religionsfreiheit eingreift und damit Grundwerte Europas untergräbt.

Dänemark will also Menschen zwingen, ihre alte Heimat komplett hinter sich zu lassen, indem sie unter Androhung staatlicher Gewalt ihre neue Heimat bedingungslos und in jeder Hinsicht akzeptieren müssen, während Schweden Menschen zwingen will, ihre religiöse Heimat zu verlassen.

Da aber Heimat etwas ist, das eine unheimlich wichtige Rolle für den Menschen spielt, ist zu befürchten, dass solche drakonischen Gesetze auch ganz negative Folgen für die Gesellschaft haben werden.

Zusammenfassend ist meine These, dass Heimat für den Menschen ein unheimlich wichtiges Gefühl ist. Sowohl für die Einwanderer als auch für die Alteingesessenen ist es legitim, die Heimat bewahren zu wollen. Von daher besteht natürlich das Bedürfnis, aufeinander zuzugehen. Durch einen der Wirtschaftstheorie von Angebot und Nachfrage ähnlichen Mechanismus wird in der Politik zwischen beiden Parteien eine Kultur der Einwanderung ausgehandelt, die die Zuwanderung regelt und damit auch einschränkt, damit die Interessen der alteingesessenen Bevölkerung geschützt werden. All das ist moralisch legitim. Was aber weder moralisch legitim noch klug noch im Einklang mir den Grundwerten Europas ist, ist, dabei die Religionsfreiheit und andere Grundrechte der Menschen zu verletzen.

Ich hoffe, mit diesem Beitrag – möge er auch Politiker und ihre Berater erreichen – einen Denkanstoß zu liefern, wie eine bessere Balance zwischen Zuwanderungspolitik und Religionsfreiheit zu leisten wäre, in der Hoffnung, dass wir eine besser integrierte, respektvolle und friedliche Gesellschaft aufbauen.

Fußnoten

 

iIn Denmark, Harsh New Laws for Immigrant ‘Ghettos’, New York Times, 1. Juli 2018, https://www.nytimes.com/2018/07/01/world/europe/denmark-immigrant-ghettos.html.

iiEs muss aber betont werden, dass Dänemark bereits während der Flüchtlingskrise zwischen 2014 und 2016 wesentlich weniger Flüchtlinge pro capita als Schweden oder Deutschland aufgenommen hat.

iiiThe Ugly Duckling: Denmark’s Anti-Refugee Policies and Europe’s Race to the Bottom, The Huffington Post, 4. Mai 2016, https://www.huffingtonpost.com/thomas-gammeltofthansen/denmark-refugee-europe_b_9574538.html; How Not to Welcome Refugees, The Atlantic, 27. Jänner 2016, https://www.theatlantic.com/international/archive/2016/01/denmark-refugees-immigration-law/431520/

ivWo man mich versteht, Spiegel Online, 7. April 2012, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/was-ist-heimat-a-826008.html

vMartin Greif, Gedichte in Auswahl. Leipzig: Amelang Verlag, 1921.

viVolkmar Frank, Du mein heißgeliebtes Ungeheuer. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2005.

viiiSiehe z. B. Schimon Schwarzfuks, Hischtalschelut Cherem haJischuw – Re‘ija miSawit acheret (hebräischer Artikel), Tel Aviv Universität, 1993, http://lib.cet.ac.il/pages/item.asp?item=22062

ixResponsen Or Sarua, Band 1, §156.

xArie Folger, Flüchtlingsdebatte: Die Aufgabe der Religionen, Jüdisches Echo 2016.

xiSweden vows to ban ALL religious schools in an effort to tackle segregation after taking in a record number of asylum seekers, Daily Mail, 18. März 2018, http://www.dailymail.co.uk/news/article-5495915/Sweden-vows-ban-religious-schools-tackle-segregation.html

xiiLeading rabbi challenges Sweden: End bans on milah, shechita, Arutz7, 16. Juni 2018, http://www.israelnationalnews.com/News/News.aspx/213859

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