Vor einem Jahr befand ich mich als einziger Jude in einem kleinen Kreis in Deutschland zu besuch. Obwohl der Grund des Besuches weder mit dem Judentum oder mit dem Thema Geschichte zu tun hatte, wendete sich das Gespräch zum Thema Holocaust, ganz besonders wie es heute noch, mehr als sechzig Jahre nach der Befreiung, den gesellschaftlichen Dialog dominiert. Wieso, fragen Deutsche, dessen Eltern nicht einmal alt genug waren, um zur Nazi-Zeit in der Wehrmacht, Luftwaffe, SS usw. gedient zu haben? Wieso müssen junge Deutsche sich noch immer mehr als die Franzosen, Spanier, Portugesen, Belgier, usw. mit dem Holocaust befassen, wenn sie mit dem damaligen Deutschland nie in Berührung kamen? Und wieso muss die ganze deutsche Gesellschaft diesen enormen Last und Schamzeichen tragen, wenn die Mehrheit der Deutschen damals nicht vom grössten Kriegsverbrechen, vom Mord an Millionen europäischen Juden, überhaupt wussten? Nicht einmal die Soldaten der Wehrmacht wussten von diesem systematischen Völkermord, der schliesslich heimlich, von einer relativ kleinen Gruppe Nazis durchgeführt wurde.
Zur ersten Frage finden Sie eine Perspektive am Ende dieses Blog-Post. Zuerst möchte ich mich zur zweite Frage wenden.
Der Spiegel veröffentlichte vor kurz einen Interview, der dieses Mythos der ingnoranten Wehrmacht, sowie der ignoranten bürgerlichen Mehrheit einmal mehr in Frage stellt, um nicht zu sagen, das es ihn wiederlegt.
Wussten die deutschen Soldaten vom Holocaust? Ja, sagt Annette Schücking-Homeyer, die als Rot-Kreuz-Helferin ein Soldatenheim hinter der Ostfront leitete. Über den Judenmord sei ganz offen gesprochen worden – in der Hoffnung auf Beförderung habe sich mancher sogar freiwillig zu Erschießungen gemeldet.
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz, in dem mehr als eine Million Juden von den Nazis umgebracht worden waren. Bis heute ist umstritten, was jene Deutschen vom Holocaust wussten, die nicht zu den Tätern zählten. Kürzlich sagte der US-Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen im SPIEGEL-Gespräch, die Kenntnis des Massenmords sei “sehr weit verbreitet” gewesen, und verwies auch auf die etwa zehn Millionen Soldaten an der Ostfront. Die Leserin Annette Schücking-Homeyer schrieb daraufhin an den SPIEGEL, sie könne als “eine Art Zeitzeugin” Goldhagens Behauptung bestätigen. Read the rest of this entry »